Hildegard Maria Spiel[1] (Pseudonyme: Grace Hanshaw und Jean Lenoir; geboren 19. Oktober 1911 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben 30. November 1990 ebenda) war österreichische Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin. Sie wurde vielfach ausgezeichnet.
Leben
Jugend in Wien
Hilde Spiel entstammte einer Familie assimilierter großbürgerlicher Juden. Ihr Großvater väterlicherseits wohnte im 1. Bezirk der Hauptstadt[2] und war hier als Kaufmann tätig. Ihr Vater Hugo F. Spiel war Ingenieur und im Ersten Weltkrieg k.u.k. Offizier. Sie lebte die ersten zehn Jahre ihres Lebens in einer Gartenwohnung an der Probusgasse in Heiligenstadt im 19. Bezirk, wo die Familie ihrer Mutter seit Generationen gewohnt hatte, und dann zwischen Arenbergpark und Fasangasse im 3.Bezirk.[3]
Studium und Emigration
1928 – im Alter von siebzehn Jahren – debütierte Spiel in der Wiener Kaffeehausszene. Nach der Matura in der Schwarzwald-Schule, an der unter anderem Arnold Schönberg, Adolf Loos und Oskar Kokoschka unterrichteten, wurde sie Mitarbeiterin der Tageszeitung Neue Freie Presse[4] und studierte an der Universität Wien Philosophie, unter anderem bei Moritz Schlick und Charlotte und Karl Bühler.[5] 1936 wurde Hilde Spiel zum Doktor der Philosophie promoviert.[6] Von 1933 bis 1935 war sie Mitarbeiterin der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle der Universität Wien, trat 1933 der 1934 verbotenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs bei und verfasste ihre ersten beiden Romane Kati auf der Brücke, wofür sie den „Julius-Reich-Preis“ verliehen bekam, und Verwirrung am Wolfgangsee. Durch den Arbeiteraufstand 1934 machte sich Spiel zum ersten Mal Gedanken über das Exil. 1936 heirateten Hilde Spiel und der Schriftsteller Peter de Mendelssohn. Das Ehepaar emigrierte im gleichen Jahr wegen der antisemitischen Politik in Österreich nach London. Einige ihrer Erzählungen, die ihr Ehemann übersetzt hatte, wurden im Daily Express veröffentlicht. Der Ehe entstammten zwei Kinder, eine am 31. Oktober 1939 geborene Tochter und der 1944 geborene Sohn Felix de Mendelssohn.[7] Hilde Spiel wurde 1941 britische Staatsbürgerin, und sie war von 1944 an als Essayistin für die Zeitung New Statesman tätig.[8]
Pendlerin
Am 30./31. Jänner 1946 flog sie als Kriegskorrespondentin dieses Blattes in Uniform in einer britischen Militärmaschine nach Wien. Ihr Vorsatz war: „Ich werde mein gegenwärtiges Leben mit meinem vergangenen vergleichen, meine Loyalität prüfen und mein Gefühlsvermögen einem Experiment unterziehen.“[9] In Wien traf sie u.a. den österreichischen Maler Josef Dobrowsky, den kommunistischen Kulturstadtrat Viktor Matejka und den jungen Kulturkritiker Hans Weigel, der aus dem Exil zurückgekehrt war, und suchte das legendäre Literatencafé Herrenhof auf; Exkursionen führten sie zu Kärntner Flüchtlingslagern und ins damals ebenfalls britisch besetzte Udine.[10]
Am 7. März 1946 flog sie nach London zurück, baute dort ein Syndikat für Kulturberichte auf und arbeitete für eine Reihe von Zeitungen und Rundfunksender.[11] Die Notizen, die sie zu ihren Beobachtungen in Wien gemacht hatte, schrieb sie als Reisebericht nieder, den sie aber erst viel später Jahre ins Deutsche übersetzte: er erschien 1968 unter dem Titel Rückkehr nach Wien. Der Bericht, so eine Rezension, sei „Selbstbeobachtung und Stadtbeobachtung in einem, eine Mischung aus Persönlichem und historischer Momentaufnahme. Alles geschrieben in dem für Spiel schon so früh typischen glasklaren, unumwundenen Stil poetisch-analytischer Präzision.“[12] 1946 kam sie noch dreimal „auf den Kontinent“ (Paris, Budapest, Brixen, Nürnberg) und ließ sich bald darauf bis 1948 in Berlin nieder. Hier war sie als Theaterkritikerin für Die Welt sowie für die Blätter The New Statesman and Nation, La France Libre, den Berliner Tagesspiegel und die Wochenzeitschrift sie tätig.
Nach ihrer Rückkehr nach Großbritannien wirkte Spiel als Kulturkorrespondentin für die Neue Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel, die Weltwoche, den The Guardian, Theater heute sowie für den Rundfunk. In der Nachkriegszeit war sie eine der wichtigsten Literaturkritikerinnen im deutschsprachigen Raum und verhalf u.a. Heimito von Doderer zum Durchbruch.[13] Zu Elias Canetti und Friedrich Torberg stand sie jahrzehntelang in konfliktreicher Beziehung.
Rückkehr nach Österreich
Seit 1955 hatte sie einen Zweitwohnsitz in St. Wolfgang. 1963 kehrte sie endgültig nach Österreich zurück, wo sie weiterhin als Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) arbeitete und mehrere Essaybände und ihre Memoiren veröffentlichte. Nach der Trennung von Peter de Mendelssohn im Jahr 1963 und der Scheidung im Jahr 1970 war sie von 1972 bis 1981 mit dem Schriftsteller und pensionierten BBC-Mitarbeiter Hans Flesch von Brunningen (†1981) verheiratet. In den 1980er-Jahren hielt sie sich nochmals als Korrespondentin der FAZ ein Jahr in London auf.
Hilde Spiel war Mitglied des Österreichischen PEN-Clubs, dessen Generalsekretärin sie von 1966 bis 1971 war. 1971 übernahm sie die Funktion der Vizepräsidentin und stellte sich nach dem Rücktritt Alexander Lernet-Holenias 1972 und auf dessen Vorschlag der Wahl zur Präsidentin. Diese Wahl wurde jedoch durch eine hauptsächlich von Friedrich Torberg betriebene Initiative verhindert. Torberg, den Spiel mehrfach als ihren „Freund-Feind“ (frenemy) bezeichnete,[14] versuchte dabei, einige seiner Freunde zu Publikationen gegen Hilde Spiel zu überreden. Als sie danach aus Protest aus dem Wiener Zentrum austrat, wechselte sie zum PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland und blieb weiterhin für den Internationalen P.E.N.-Club tätig, in dem sie sich gemeinsam mit Heinrich Böll für das Komitee Writers in Prison engagierte. Sie gehörte außerdem der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt an.
Hilde Spiel wurde wie ihr zweiter Ehemann Hans Flesch von Brunningen auf dem Friedhof in Bad Ischl beigesetzt, wo auch ihre Eltern bestattet sind. Die Eltern besaßen in Bad Ischl eine Villa. Der Grabstein nennt sie als Hilde Maria Flesch-Brunningen.[15] Hilde Spiels Nachlass wird im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt.
Leistungen
Hilde Spiel verfasste neben ihren journalistischen Arbeiten Romane, Erzählungen und historische Sachbücher. Auch als Übersetzerin zahlreicher englischer Romane und Theaterstücke (z.B. Tom Stoppard, James Saunders, W.H. Auden und Graham Greene) ist sie hervorgetreten.
Auszeichnungen und Ehrungen
1934 Julius-Reich-Preis
1962 Bundesverdienstkreuz I. Klasse
1972 Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse
1972 Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien
1976 Preis der Stadt Wien für Publizistik
1978 Goldenes Verdienstzeichen des Landes Salzburg
1981 Johann-Heinrich-Merck-Preis
1981 Roswitha-Preis
1981 Donaulandpreis
1985 Großes Bundesverdienstkreuz
1985 Peter-Rosegger-Preis
1986 Ernst-Robert-Curtius-Preis
1986 Ehrengabe des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie
1988 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
1989 Friedrich-Schiedel-Literaturpreis
1990 Goethe-Medaille
2003 Hilde-Spiel-Gasse in Wien-Liesing
Werke
Romane, Erzählungen, kleinere Schriften
Der kleine Bub Desider. Wien 1929 (Einreichung beim Jugendpreisausschreiben der Neuen Freien Presse; zur Veröffentlichung erworben, aber nicht preisgekrönt, da die Autorin seinerzeit die Altersgrenze um ein Jahr überschritten hatte)[16]
Kati auf der Brücke. Berlin u.a. 1933. Neuauflage: Edition Atelier, Wien 2012, ISBN 978-3-902498-58-8.
Die Kette.In:Neue Freie Presse, Abendblatt, Nr. 25310 A/1935, 27. Februar 1935, S. 5. (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nfp.
Verwirrung am Wolfgangsee. Leipzig u.a. 1935
Flöte und Trommeln. Wien 1947
Der Park und die Wildnis. München 1953
London. München 1956 (zusammen mit Elisabeth Niggemeyer)
Sir Laurence Olivier. Berlin 1958
Welt im Widerschein. München 1960
Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. Frankfurt am Main 1962
Lisas Zimmer. München 1965
Verliebt in Döbling. Wien u.a. 1965 (zusammen mit Franz Vogler)
Rückkehr nach Wien. München 1968
Wien. München 1971
Städte und Menschen. Wien 1971b
Kleine Schritte. München 1976
Mirko und Franca. München 1980
Die Früchte des Wohlstands. München 1981
In meinem Garten schlendernd. München 1981
Englische Ansichten. Stuttgart 1984
Ortsbestimmung. Weilheim 1984
Der Mann mit der Pelerine und andere Geschichten. Bergisch Gladbach 1985
Der Baumfrevel. Stuttgart 1987
Vienna's golden autumn. London 1987
Anna und Anna. Wien 1988
Venedig, Theater der Träume. München 1988 (zusammen mit Giosanna Crivelli und Thomas Klinger)
Die hellen und die finsteren Zeiten – Erinnerungen 1911–1946 . List, München 1989
Welche Welt ist meine Welt? München u.a. 1990
Die Dämonie der Gemütlichkeit. München 1991
Das Haus des Dichters. Literarische Essays, Interpretationen, Rezensionen. List, München 1992. ISBN 3-471-78632-5.
Hilde Spiel – die grande dame. Göttingen 1992 (zusammen mit Anne Linsel)
Briefwechsel. München u.a. 1995
Herausgeberschaft
England erzählt. Frankfurt am Main u.a. 1960
William Shakespeare, König Richard III. Frankfurt/M. u.a. 1964
Der Wiener Kongreß in Augenzeugenberichten. Düsseldorf 1965
Die zeitgenössische Literatur Österreichs. Zürich u.a. 1976
Angus Wilson: Mehr Freund als Untermieter. Frankfurt am Main 1961
Angus Wilson: Was für reizende Vögel. Wiesbaden 1958
Artikel
Parforcejagd durch das Universum, Die Furche, 8. März 1958: Hilde Spiel schreibt aus London über den Astrophysiker und Volksbildner Fred Hoyle aus Yorkshire.
Übersetzungen ins Englische
Alfred Schmeller: Cubism. London 1961
Alfred Schmeller: Surrealism. London 1961
Würdigung
Nach ihr wurde der Hilde-Spiel-Park im 19. Wiener Gemeindebezirk benannt.
Literatur
Gerhard Benetka: Spiel, Hilde. In: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2002, ISBN 3-205-99467-1, S. 701f.
Bettina Hawlitschek: Fluchtwege aus patriarchaler Versteinerung. Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen im Frühwerk Hilde Spiels. Pfaffenweiler: Centaurus 1997. (= Frauen in der Literaturgeschichte; 8) ISBN 3-8255-0140-X
Christa Victoria Howells: Heimat und Exil. Ihre Dynamik im Werk von Hilde Spiel. Ann Arbor, Mich.: UMI 1998.
Bettina Krammer: Wer ist Lisa L. Curtis? Manifestation der hysterischen Charakterstruktur sowie der Emigrations- und Suchtproblematik bei Lisa Leitner Curtis in „Lisas Zimmer“ von Hilde Spiel. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1998. (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; 1686) ISBN 3-631-32663-7
Hans A. Neunzig, Ingrid Schramm (Hrsg.): Hilde Spiel. Weltbürgerin der Literatur. Wien: Zsolnay 1999. (= Profile; Jg. 2, H. 3) ISBN 3-552-04895-2
Marcel Reich-Ranicki: Reden auf Hilde Spiel. München: List 1991. ISBN 3-471-78549-3
Marcel Reich-Ranicki: Über Hilde Spiel. München: dtv 1998. (= dtv; 12530) ISBN 3-423-12530-6
Ingrid Schramm:Spiel, Hilde Maria Eva. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S.685f.(Digitalisat).
Waltraud Strickhausen: Die Erzählerin Hilde Spiel oder „Der weite Wurf in die Finsternis“. New York u.a.: Lang 1996. (= Exil-Studien; 3) ISBN 0-8204-2623-7
Sandra Wiesinger-Stock: Hilde Spiel. Ein Leben ohne Heimat? Wien: Verl. für Gesellschaftskritik 1996. (= Biographische Texte zur Kultur- und Zeitgeschichte; 16) ISBN 3-85115-233-6
Jochen Hieber: Nur Gutes über Doderer schreiben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. (Bilder und Zeiten, 15. Oktober 2011)
Hillary Hope Herzog:Vienna is different - Jewish Writers in Austria from the fin de siècle to the present. In: Austria and Habsburg Studies. Band12. Bergbahn Books, 2011, ISBN 978-1-78238-049-8, S.212.
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