Dieter Wunderlich (* 14. Juni 1937 in Rostock) ist ein deutscher Linguist.
Wunderlich wurde als zweites von fünf Kindern des Amtsarztes Felix Wunderlich geboren. 1949 zog die Familie in das Seebad Heringsdorf (Usedom), wo der Vater eine Tuberkulose-Heilstätte leitete. Nach dem Abitur 1955 studierte Wunderlich Physik, zunächst bis 1957 in Jena, danach in Leipzig. 1959 verließ Wunderlich die DDR und setzte sein Studium in Hamburg fort. Auf der Basis einer experimentell-kernphysikalischen Arbeit über die longitudinale Elektronenpolarisation beim Beta-Zerfall des Pm 147 bestand er 1964 die Diplomprüfung für Physik. Anschließend war er ein Jahr lang in der Kernreaktor-Firma Interatom in Bensberg bei Köln tätig und war dort hauptsächlich mit Berechnungen bei der Planung des natriumgekühlten Kernreaktors in Kalkar befasst.
1965 zog Wunderlich nach Berlin und nahm ein Zweitstudium an der philosophischen Fakultät der TU Berlin auf. Vermittelt durch die Bekanntschaft mit Klaus Baumgärtner (damals an der TU) und Manfred Bierwisch (damals an der Arbeitsstelle für strukturelle Grammatik an der Akademie der Wissenschaften der DDR) interessierte sich Wunderlich für die neuesten Entwicklungen der generativen Grammatik. Er wurde Assistent am Institut für Sprache im technischen Zeitalter von Walter Höllerer und beteiligte sich im Kreis um den neuberufenen Linguisten Helmut Schnelle. 1969 promovierte er an der TU Berlin mit einer Arbeit über Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, in der er eine neue Verbindung von Morphologie mit Semantik und Pragmatik propagierte. 1970 wurde Wunderlich Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der FU Berlin. Von 1973 bis zur Emeritierung 2002 hatte er den neu geschaffenen Lehrstuhl für Allgemeine Sprachwissenschaft an der (später nach Heinrich Heine benannten) Universität Düsseldorf inne.
Wunderlich lebt mit seiner Frau, der Pianistin und Klavierlehrerin Leonore Wunderlich, in Berlin; sie haben 2 Töchter und 3 Enkelkinder.
Wunderlich deckt mit seinen Arbeiten ein breites Themenspektrum in der Linguistik ab. Er gehört zu den Initiatoren der linguistischen Wende in Deutschland (Wunderlich 2004) und war Mitbegründer und von 1978 bis 1980 erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS). Er war Anhänger der generativen Grammatik und zugleich eine wichtige Figur bei der Einführung von Pragmatik und Diskursanalyse in Deutschland. In den 1970er Jahren hat Wunderlich, u. a. beeinflusst durch die Arbeiten von Austin, Searle, Grice und insbesondere Bar-Hillel, zahlreiche wichtige Arbeiten zur Sprechakttheorie, zur Kontextabhängigkeit der Bedeutung (z. B. sein Arbeitsbuch Semantik) und zu weiteren Phänomenen im Bereich Pragmatik und Diskurs verfasst.
Aus der Forschung der 80er Jahre sind vor allem Wunderlichs Arbeiten zu Sprache und Raum hervorzuheben, insbesondere die zur Semantik der Präpositionen, bei denen Wunderlich den gemeinsamen Bedeutungskern – die Lokalisierungsrelation –, die präpositionsspezifischen Bedeutungsanteile und die grammatische Kombinatorik der Präpositionalphrasen herausgearbeitet hat. Hier zeigt sich deutlich der Einfluss der von Manfred Bierwisch und Ewald Lang entwickelten 2-Ebenen-Semantik, die semantische, d. h. grammatisch relevante Bedeutungsanteile, und konzeptuelle Information voneinander trennt. Wunderlichs Studien zur Wortstruktur von Komposita und komplexen Verben waren Vorarbeiten zum zentralen Gesamtkomplex Lexikon, der Wunderlichs Forschung in den 90ern dominierte. Sichtbarste Bündelung der Bestrebungen, dem Lexikon die ihm zukommende Rolle für die Grammatik zuzuweisen, war der von Wunderlich initiierte SFB 282 Theorie des Lexikons[1].
In diversen SFB-Teilprojekten entwickelte Wunderlich verschiedene lexikalische Subtheorien, die ineinander greifen und sich als sprachübergreifend tragfähig erwiesen haben:
Ausgangspunkt für alle Teiltheorien ist die Annahme, dass sämtliche Exponenten (Stämme wie Flexions- oder Derivationsmorpheme) als eigenständige Lexikoneinheiten mit Phonetischer Form (PF), Semantischer Form (SF) und weiteren grammatischen Auszeichnungen repräsentiert sind und nach üblichen semantischen Kompositionsmechanismen präsyntaktisch zu Komplexen zusammengefügt werden. In Verknüpfung mit der Optimalitäts- bzw. Korrespondenztheorie ist es Wunderlich gelungen, unerwartete Formen der Ersetzung und Lücken in Paradigmen wie auch ungewöhnlichere Formen der Argumentrealisierung mit einfachen Mitteln zu analysieren.
Wunderlich betreute insgesamt 25 Dissertationen; zusammen mit den Doktoranden verfasste er Detailanalysen zu morphosyntaktischen Phänomenen in einer Vielzahl von europäischen und außereuropäischen Sprachen.[3] Wunderlich legte auch großen Wert auf den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse; so gab er 12 Jahre lang die Zeitschrift Studium Linguistik heraus und wirkte bei der Entwicklung von Lehrwerken für den Deutschunterricht der Klassen 5 bis 10 mit.
In der Öffentlichkeit ist Wunderlich zuletzt hervorgetreten mit Vorträgen und Interviews zur Evolution der Sprache und zur Frage, wie sich Sprachuniversalien und Sprachenvielfalt zueinander verhalten (Wunderlich 2015).
Im akademischen Jahr 1991/1992 war Wunderlich Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.[4] Im Jahr 2014 erhielt er den Wilhelm von Humboldt-Preis der DGfS für sein Lebenswerk.[5] 2016 wurde er zum Fellow der American Association for the Advancement of Science gewählt.[6]
Personendaten | |
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NAME | Wunderlich, Dieter |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Linguist |
GEBURTSDATUM | 14. Juni 1937 |
GEBURTSORT | Rostock |