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Reiner Kunze (* 16. August 1933 in Oelsnitz/Erzgeb.) ist ein deutscher Schriftsteller, literarischer Übersetzer und DDR-Dissident.

Reiner Kunze bei einer Lesung in Schorndorf (2012)
Reiner Kunze bei einer Lesung in Schorndorf (2012)
Unterschrift von Reiner Kunze im Jahr 1986
Unterschrift von Reiner Kunze im Jahr 1986

Leben


Reiner Kunze ist Sohn eines Bergarbeiters und einer Kettlerin. Ab 1947 besuchte er eine Aufbauklasse, die Arbeiterkindern eine höhere Schulbildung ermöglichte. Zwei Jahre später wurde er vom Rektor seiner Schule als Kandidat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vorgeschlagen. 1951 legte er sein Abitur in Stollberg ab.

In Stollberg lernte er 1950 Ingeborg Weinhold kennen, die er 1954 heiratete. Aus dieser Ehe ging der Sohn Ludwig hervor.[1] Die Ehe wurde im Jahr 1960 geschieden.

Kunze studierte Philosophie und Journalistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Nach dem Staatsexamen 1955 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der Journalistischen Fakultät der Karl-Marx-Universität (auch als „Rotes Kloster“ bezeichnet) in Leipzig. Nach schweren politischen Auseinandersetzungen kündigte Kunze 1959 seine Stelle an der Universität, ohne seine Promotion zu beenden.

Seine ersten Gedichte veröffentlichte er 1953 in der Zeitschrift neue deutsche literatur. Zunächst orientierte sich Kunze am sozialistischen Realismus, später begann er, sich zunehmend von den Vorstellungen der SED zu distanzieren. Sein erster Lyrikband erschien unter dem Titel Vögel über dem Tau.

Nachdem er die Universität verlassen hatte, arbeitete er vorübergehend als Hilfsschlosser im Schwermaschinenbau.[1] 1961 lernte Kunze die aus einem deutsch-tschechischen Elternhaus stammende Ärztin Elisabeth Littnerová kennen, nach langer Zeit des Briefeschreibens auch persönlich. Sie heirateten und 1962 siedelte Elisabeth Kunze von der Tschechoslowakei in die DDR über, wo sie in Greiz/Thüringen als Kieferorthopädin zu arbeiten begann. Aus erster Ehe brachte Elisabeth die Tochter Marcela mit.[2]

Reiner Kunze arbeitete in dieser Zeit als freier Schriftsteller in Greiz und in einem nur 15 km entfernten Bauernhaus in Leiningen. Über seine Frau und bei längeren Aufenthalten in der Tschechoslowakei kam er in Kontakt mit tschechischen Künstlern, gewann Freunde unter ihnen und übersetzte später Werke von bisher über sechzig tschechischen und slowakischen Dichtern. Etlichen von ihnen, darunter dem poetisch einflussreichen Jan Skácel, ebnete der Dichterkollege als Übersetzer den Weg, auch in der deutschsprachigen Welt bekannt zu werden. 1968 trat Kunze aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Warschauer-Pakt-Truppen aus der SED aus. Als Folge davon legte das Ministerium für Staatssicherheit eine Akte unter dem Decknamen „Lyrik“ über ihn an, die bis zum Ende der DDR auf viele tausend Seiten anwuchs und die „Zersetzungsmaßnahmen“ gegen ihn im Osten und im Westen dokumentiert.

Reiner Kunze in der Memminger Martinskirche zur Preisverleihung des zweiten Memminger Freiheitspreises 1525 am 20. März 2009
Reiner Kunze in der Memminger Martinskirche zur Preisverleihung des zweiten Memminger Freiheitspreises 1525 am 20. März 2009

Die Herausgabe des Gedichtbandes Sensible Wege – Achtundvierzig Gedichte und ein Zyklus stieß 1969 auf Widerstand im Politbüro der SED und im Schriftstellerverband der DDR. Für Kunze wurde es zunehmend schwieriger, seine Werke zu veröffentlichen. Sein Freund Heinz Knobloch konnte ihm – nicht ohne persönliches Risiko – bis 1974 kleine Aufträge für Rezensionen in der Wochenpost verschaffen. Dort erschienen von 1969 bis 1974 Rezensionen unter den Pseudonymen „Jan Kunz“ und „Alexander Ludwig“. Als 1970 in der Bundesrepublik Deutschland das Kinderbuch Der Löwe Leopold: Fast Märchen, fast Geschichten erschien, wurde Kunze wie auch nach dem Buch Sensible Wege mit einem Ordnungsstrafverfahren belegt, und die Autorenexemplare wurden beschlagnahmt.

1976 wurde sein Prosaband Die wunderbaren Jahre in der Bundesrepublik veröffentlicht. Darin kritisierte er das DDR-System scharf. Das Manuskript war heimlich in die Bundesrepublik gebracht worden. Wegen seiner dissidierenden Haltung wurde Kunze am 29. Oktober 1976 in Weimar auf Beschluss des Bezirksverbandes Erfurt/Gera aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam.[3] Eine DDR-Ausgabe des Buches Der Löwe Leopold, die im selben Jahr erscheinen sollte, wurde nicht ausgeliefert, 15.000 verkaufsfertige Exemplare wurden eingestampft.

Am 7. April 1977 stellte Kunze wegen einer drohenden mehrjährigen Haftstrafe für sich und seine Frau einen Antrag auf Ausbürgerung aus der DDR. Der Antrag wurde innerhalb von drei Tagen genehmigt, und Kunze siedelte am 13. April mit seinen Angehörigen in die Bundesrepublik über.

1978 schrieb er das Drehbuch zu dem Film Die wunderbaren Jahre. 1981 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband nach der Übersiedlung in den Westen Deutschlands, Auf eigene Hoffnung.

1990 erhielt Kunze als einer der ersten Betroffenen Einblick in seine Stasi-Akten.[4] Auszüge aus den Dokumenten, die zwölf Akten mit insgesamt rund 3.500 Blatt[5] umfassten, veröffentlichte er in der Dokumentation „Deckname Lyrik“. Aus den Unterlagen ging hervor, dass ein Freund der Familie, Ibrahim Böhme, später Vorsitzender der DDR-SPD, ein langjähriger Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war. Die Dokumentation befeuerte die Diskussion über die Frage, ob die Stasi-Unterlagen einsehbar sein sollten.

Kunze ist ein Kritiker der Rechtschreibreform von 1996. Er unterzeichnete auf der Basis der Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform von 1996 im Jahre 2004 den Frankfurter Appell zur Rechtschreibreform. So wandte er sich in vielen Einzelbeiträgen (Lit.: u. a. FAZ) und in seiner Denkschrift Die Aura der Wörter gegen die Rechtschreibreform. Reiner Kunze trat auch öffentlich gegen die sogenannte geschlechtergerechte Sprache auf, die er mit einer Wortneuschöpfung „Sprachgenderismus“ nennt. In dieser Hinsicht wird Kunze in der Passauer Neuen Presse wie folgt zitiert: „Der Sprachgenderismus ist eine aggressive Ideologie, die sich gegen die deutsche Sprachkultur und das weltliterarische Erbe richtet, das aus dieser Kultur hervorgegangen ist.“[6]

Reiner Kunze lebt altersgemäß zurückgezogen mit seiner Ehefrau in Erlau, Gemeinde Obernzell bei Passau.


Mitgliedschaften


Reiner Kunze ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Freien Akademie der Künste Rhein-Neckar und der Sächsischen Akademie der Künste, des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Von 1975 bis 1993 war er Mitglied der Akademie der Künste (Berlin), aus der er gemeinsam mit vielen Kollegen aus Protest gegen die En-bloc-Übernahme der Mitglieder der Ost-Berliner Akademie der Künste austrat. Kunze ist Ehrenmitglied des Collegium Europaeum Jenense der Friedrich-Schiller-Universität Jena, des Sächsischen Literaturrates, des Freien Deutschen Autorenverbandes, des Ungarischen Schriftstellerverbandes, des Tschechischen PEN-Zentrums und der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft zu Köthen/Anhalt – Vereinigung zur Pflege der deutschen Sprache.


Auszeichnungen und Ehrungen


Elisabeth und Reiner Kunze im Mai 2017 in Oelsnitz im Erzgebirge
Elisabeth und Reiner Kunze im Mai 2017 in Oelsnitz im Erzgebirge

Zu seinen Ehren stiftete Kunzes Vaterstadt Oelsnitz einen Reiner-Kunze-Preis, der 2007 erstmals verliehen wurde.[15]


Werke (Auswahl)


Foto-Einzelausstellungen u. a. in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Gotha, Judenburg, Landshut, Obernzell, Offenburg, Passau u. Würzburg.

Von Reiner Kunzes Lyrik und Prosa erschienen im europäischen und außereuropäischen Ausland (unter anderem in Argentinien, Brasilien, Japan, Korea und den USA) Übersetzungen in 30 Sprachen in über 60 Einzelausgaben.


Stiftung und geplantes Museum


2006 gründete das Ehepaar Kunze eine Stiftung, in die es sein Vermögen einbrachte.[16] Nach dem Tod von Elisabeth und Reiner Kunze wird ein Stiftungsrat aus Literaturwissenschaftlern und Ausstellungsmachern das Wohnhaus in ein Museum umwandeln, das spätere Generationen beim Verständnis der jüngeren Geschichte Deutschlands unterstützen soll.[16] In die Sammlung werden Briefe, Filmausschnitte, Fotos, Beschlagnahmungsbescheide, Stasi-Unterlagen und vieles mehr aus dem persönlichen Besitz Kunzes eingehen und in ihrer Summe ein „Bild von einem deutsch-deutschen Leben“ zeichnen.[16]


Literatur




Wikiquote: Reiner Kunze – Zitate
Commons: Reiner Kunze – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen und Einzelnachweise


  1. Redaktion: Reiner Kunze: Die wunderbaren Jahre. 7. Oktober 2015, abgerufen am 2. November 2022.
  2. Reiner Kunze (geb. 1933). Abgerufen am 2. November 2022.
  3. Axel Stefek: 1976. Der Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband. In: Ders.: Weimar unangepasst. Widerständiges Verhalten 1950–1989. Weimar 2014, S. 61–68.
  4. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz wurde erst im Dezember 1991 verabschiedet.
  5. Matthias Biskupek: Sieger und Scheusale der Geschichte. Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. In: Eulenspiegel. Wochenzeitschrift für Satire und Humor. 38. Jg., Nr. 9/91, S. 21.
  6. PNP.de: Dichter Reiner Kunze: "Sprachgenderismus ist eine aggressive Ideologie". Abgerufen am 2. November 2022.
  7. Thüringer Staatskanzlei - Thüringer Verdienstorden für Dr. h. c. Reiner Kunze. 29. September 2008, abgerufen am 2. November 2022.
  8. archive.ph. Abgerufen am 2. November 2022.
  9. Pásmo: Roman Kopřiva - Reinera Kunzeho Pražské jaro a Zázračná léta. 2. Dezember 2013, abgerufen am 2. November 2022 (tschechisch).
  10. Süddeutsche Zeitung vom 3. Juni 2014, Feuilleton, Nachricht
  11. Schriftsteller Reiner Kunze erhält Hohenschönhausen-Preis. Abgerufen am 2. November 2022.
  12. Reiner Kunze erhält den Franz Josef Strauß-Preis. Abgerufen am 2. November 2022.
  13. Auszeichnung: Reiner Kunze erhält den 11. Scheidegger Friedenspreis. 14. August 2019, abgerufen am 2. November 2022.
  14. Josef Kraus: Reiner Kunze geehrt – „Patriot und Großanwalt der Sprache“. (Veröffentlichung der Laudatio). In: tichyseinblick.de. 28. August 2021, abgerufen am 28. August 2021.
  15. Reiner-Kunze-Preis 2007 - 2017 (Hrsg.): Stadt Oelsnitz/Erzgeb., Oelsnitz/Erzgeb. 2017, ISBN 978-3-9818849-0-6
  16. Sabine Reithmaier: Jasmintee, ein Löwe und starke Worte. Erinnerungen an "Die wunderbaren Jahre": Reiner Kunze und seine Frau Elisabeth, beide 81 Jahre alt, bauen ihr Haus bei Passau in ein Museum um. Sie dokumentieren für künftige Generationen die Geschichte eines lebenslangen Kampfes mit den Waffen des Schriftstellers um Freiheit und Gerechtigkeit. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 37, 14./15. Februar 2015, ISSN 0174-4917, S. R22.
Personendaten
NAME Kunze, Reiner
KURZBESCHREIBUNG deutscher Schriftsteller, literarischer Übersetzer und DDR-Dissident
GEBURTSDATUM 16. August 1933
GEBURTSORT Oelsnitz/Erzgeb.

На других языках


- [de] Reiner Kunze

[en] Reiner Kunze

Reiner Kunze (born 16 August 1933 in Oelsnitz, Erzgebirge, Saxony) is a German writer and GDR dissident. He studied media and journalism at the University of Leipzig. In 1968, he left the GDR state party SED following the communist Warsaw Pact countries invasion of Czechoslovakia in response to the Prague Spring. He had to publish his work under various pseudonyms. In 1976, his most famous book The Lovely Years, which contained critical insights into the life, and the policies behind the Iron Curtain, was published in West Germany to great acclaim. In 1977, the GDR regime expatriated him, and he moved to West Germany (FRG). He now lives near Passau in Bavaria.

[es] Reiner Kunze

Reiner Kunze (* 16 de agosto de 1933 en Oelsnitz en los Montes Metálicos, Alemania) es un poeta, escritor y traductor alemán. Fue disidente en la República Democrática Alemana.

[fr] Reiner Kunze

Reiner Kunze, né le 16 août 1933 à Oelsnitz/Erzgeb. en ex-RDA, est un écrivain allemand issu d'une famille de mineurs. Il est aussi un célèbre dissident.

[ru] Кунце, Райнер

Райнер Кунце (нем. Reiner Kunze; род. 16 августа 1933[1][2][3][…], Эльсниц, Рудные Горы) — немецкий поэт, прозаик, переводчик и режиссёр.



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